Ambidextrie in der Restrukturierung: Spagat zwischen optimieren und experimentieren

Erfolgreiche Unternehmen von heute beschränken sich nicht mehr darauf, ihre Organisation „auszuquetschen“ wie eine reife Zitrone. Der Wettlauf um immer schlankere Prozesse, effizientere Fertigungsschritte und die geringsten Einkaufspreise ist zwar noch immer wichtig, aber nicht mehr die alleinige Erfolgsformel. Dies gilt auch für Chief Restructuring Officer (CRO‘s): Sie sollten daher die Kunst der Ambidextrie beherrschen.

Der Begriff der organisationalen „Ambidextrie“ taucht zum ersten Mal im Jahr 1976 auf. Der US-amerikanische Soziologe Robert B. Duncan beschrieb damit die Aufgabe von Unternehmen, möglichst effizient zu agieren und gleichzeitig innovativ zu sein. Ich hatte dies in einem meiner Blogs im vergangenen Jahr – zugegebenermaßen weniger elegant – als Spannungsfeld zwischen „Butter-und-Brot-Geschäft“ und „Innovation“ bereits thematisiert, wenn auch nur in Teilaspekten.

Corona-Pandemie ließ Forschungs-Budgets schrumpfen

Zunächst scheint es selbstverständlich zu sein, dass Unternehmen kontinuierlich Kosten optimieren und gleichzeitig neue Geschäftsfelder erschließen. Dennoch gibt es Rahmenbedingungen, unter denen die Gewichtung dieser beiden Aspekte aus der Balance gerät. Aktuelles Beispiel: Umsatzrückgänge im Corona-Jahr führten im vergangenen Jahr insbesondere bei deutschen Unternehmen zu deutlichen Einsparungen in Forschung und Entwicklung. In seinem Innovationspanel beziffert das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) den Rückgang bei deutschen Unternehmen auf 6,3 Prozent. Vor allem die Maschinenbau-Branche habe in diesem Bereich kräftig gespart. Inzwischen scheint sich die deutsche Wirtschaft zu erholen, und immer mehr Unternehmen beschäftigen sich wieder mit ihrer strategischen Ausrichtung und künftigen Wachstumschancen.

In der Restrukturierung auch an die Zukunft denken

Das typische Reaktionsmuster „weniger Umsatz = weniger Ausgaben für Innovationen“ trifft natürlich auch auf Unternehmen zu, die sich in der Restrukturierung befinden. Dabei ist es insbesondere in dieser Phase extrem wichtig, gleichzeitig die Effizienz zu steigern (Exploitation) und die Innovationskraft zu stärken – an neuen Geschäftsfeldern zu arbeiten (Exploration).

Diese Beidhändigkeit beschreiben Robert B. Duncan und später Michael Tushman und Charles O’Reilly mit der Organisationstheorie der organisationalen Ambidextrie und zeigen gleich zwei relevante Ansätze auf.

Strukturelle Ambidextrie setzt auf abgetrennte Innovations-Einheiten

Werfen wir zuerst einen Blick auf die sogenannte strukturelle Ambidextrie: Vereinfacht gesagt werden dabei die Einheiten für die Entwicklung neuer Geschäftsfelder von den übrigen Bereichen des Unternehmens abgetrennt. Ein Teil der Organisation kümmert sich – weiter – um Exploitation, Effizienz und inkrementelle Weiterentwicklung des „Alten“, ein anderer Teil um neue Geschäftsmodelle, die Exploration.

Von der Theorie zur Praxis: Beispiele für die strukturelle Ambidextrie liefern Unternehmen, die meist kleinere Start-ups gründen oder eigene Bereiche im Unternehmen aufbauen, die als sogenannte „Innovation-Labs“ eigenständig und von anderen Bereichen getrennt agieren.

Bei „Start-up-Modell“ und dem Aufbau neuer Einheiten wie „Innovation Labs“ innerhalb der Struktur kann das Unternehmen die ursprüngliche Top-down-Organisationsform beibehalten. Diese neuen Einheiten jedoch arbeiten eher nach agilen Prinzipien, in Selbstorganisation. Für beide Modelle gilt: Sie müssen auf einer übergeordneten Ebene zusammengeführt werden.

Externe „Innovation-Labs“ führen häufig zu Spannungsfeldern in der Belegschaft

Häufiges Problem: Die konträren Zielsetzungen und Organisationsformen können zu Spannungsfeldern innerhalb der Kernbereiche führen. Der klassische Vorwurf: Warum wird dort Geld für Experimente „verbrannt“, während anderswo eisern gespart werden muss? Dies ist häufig die Folge einer weiteren Herausforderung: Wie können die in den ausgelagerten Geschäftsbereichen entwickelten Ideen und Konzepte in das Gesamtunternehmen eingebunden und kommuniziert werden?

Hohe finanzielle Belastung für Mittelständler in Restrukturierung

Was bereits für stabile Unternehmen eine Herausforderung darstellt, wird bei Restrukturierungsprojekten nicht einfacher. Die angeschlagenen Unternehmen arbeiten oft seit vielen Jahren bereichsübergreifend mit den gleichen Zielsetzungen. Eine plötzliche Trennung sorgt daher zusätzlich für Unruhe, Unverständnis und Unzufriedenheit.

Darüber hinaus dürfte sich – gerade im Falle einer Restrukturierung – die Trennung bei kleineren Mittelständlern aufgrund eingeschränkter (finanzieller) Ressourcen als herausfordernd bis nahezu unmöglich erweisen.

Einheitliche Organisationsform in der kontextuellen Ambidextrie

Im Gegensatz zur strukturellen Ambidextrie verfolgt der Ansatz der kontextuellen Ambidextrie eine einheitliche Organisationsform. Statt Geschäftsbereiche in zwei unabhängige „Lager“ zu trennen, bleiben bei der kontextuellen Ambidextrie die Strukturen erhalten. Das Ziel: Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten beidhändig und können Spannungen zwischen Exploitation und Exploration so besser akzeptieren.

Dazu müssen in ihnen die Bereitschaft und die Fähigkeiten entwickelt werden, sich aktiv in die Transformation einzubringen und am Innovations- und Kreativprozess mitzuarbeiten. An die Stelle der „Umstrukturierung“ rückt hier also die Ermutigung und Befähigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, eigene Entscheidungen zu treffen, wann Exploration und wann Exploitation angesagt sind.

Google fährt zweigleisig

Die ausschließliche Fokussierung auf die kontextuelle Ambidextrie wird häufig von jungen Unternehmen in der Wachstumsphase oder sehr forschungsintensiven Unternehmen praktiziert. Auch dieses Modell hält für ein Unternehmen einige Herausforderungen parat. Ein Beispiel: Mittlerweile hat auch Google neben seiner bekannten 20%-Regel – Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden 20 Prozent ihrer Arbeitszeit zur Verfügung gestellt, um zukunftsbezogene Ideen zu entwickeln und auszuarbeiten – einen internen Start-up-Inkubator namens „Area 120“ aufgesetzt.

Ambidextrie verlangt neues Führungsverhalten – auch von Chief Restructuring Officers

Beide Vorgehensweisen – strukturell und kontextuell – stellen erhebliche Anforderungen an die Führungskräfte. Während sich bei der strukturellen Ambidextrie die Führungsaufgaben auf den Ausgleich zwischen den Bereichen konzentrieren, sind im zweiten Falle Kompetenzen der ausgleichenden Führung und Förderung durch alle Führungskräfte im Unternehmen erforderlich.

Die Führung beider Ambidextrie-Modelle  – strukturell und kontextuell – sollten heutzutage auch zum Repertoire von CRO‘s gehören. Welche Herausforderungen dabei auf CRO’s warten, behandle ich in meinem nächsten Blog-Beitrag. Bis dahin gilt: Bleiben Sie gesund und wachsam!

 

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